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Portrait eines jungen Mannes

Kontrollverlust im virtuellen Raum?

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Haben wir uns nicht alle daran gewöhnt? Statt für jedes einzelne Meeting ins Büro zu fahren, schalten wir an einem beliebigen Ort unseren Rechner ein, wählen uns über „Teams“ oder „Zoom“ ein und tauschen uns virtuell mit Kolleginnen und Kollegen aus. Und wenn wir dabei noch im Schlafanzug am Frühstückstisch sitzen, bleibt die Kamera eben aus. Schöne neue Arbeitswelt?

 

Auch Lino Ballof, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Accounting von Prof. Michael Stich am TUM Campus Heilbronn, schätzt die Vorteile des „Remote“-Arbeitens – von der Bequemlichkeit über die Zeitersparnis bis hin zum geringeren CO2-Fußabdruck. „Schon vor den pandemiebedingten Einschränkungen war ich ein Fan von virtuellen Meetings, weil diese das Studien- und Alltagsleben deutlich flexibler gemacht haben. Inzwischen bin ich aber deutlich skeptischer, ob diese vermeintlich bequemen Formate wirklich zu den besten Ergebnissen für mich selbst und andere führen. Oft habe ich mir schon im Nachhinein gedacht, dass ein ,Aug in Aug‘-Treffen vielleicht doch die bessere Alternative gewesen wäre“, sagt der Nachwuchsforscher der TUM School of Management. 

Der Hauptgrund für seinen Sinneswandel: Er kann sein skeptisches Bauchgefühl inzwischen wissenschaftlich untermauern, da er sich intensiv mit den Motiven für und Folgen von verschiedenen Kommunikations- und Sitzungsformaten – virtuell, hybrid und in Präsenz – beschäftigt hat.
 

Forschungsprojekt zu Sitzungsformen von Aufsichtsräten
 

In einem aktuellen Forschungsprojekt untersucht Lino Ballof, wie technologiegestützte Kommunikations- und Sitzungsformen der Aufsichtsräte deutscher Unternehmen die Schlagkraft dieser mächtigen Kontrollgremien beeinflussen. Im Fokus stehen dabei bewusste Manipulationen der veröffentlichten Erfolgszahlen, zum Beispiel des Umsatzes und des Jahresüberschusses, durch Unternehmensvorstände – oder, wie Lino Ballof es umschreibt, von „bilanzpolitischen Maßnahmen, die nicht notwendigerweise illegale oder ethisch verwerfliche Praktiken darstellen“. 

Neben zielgerichtet ermittelten Parametern für die Buchhaltung, etwa der bewussten Überschätzung der Nutzungsdauer einer Maschine, zählt hierzu auch die Gestaltung von Projekten und Geschäftsbeziehungen, beispielsweise die bewusste Verzögerung eines erfolgversprechenden Forschungsprojekts. Es stellt sich nun die Frage, ob virtuell oder hybrid tagende Aufsichtsräte derartigen Manipulationen genauso gut wie vor Ort tagende Gremien entgegenwirken können.

In mühevoller Kleinarbeit hat Lino Ballof aus wenig standardisierten Unternehmensdokumenten tausende Datenpunkte zusammengetragen, die tiefe Einblicke in die Zusammensetzung und Arbeitsweise der hinter verschlossenen Türen tagenden Aufsichtsräte erlauben. Da Deutschland unter den westlichen Ländern Vorreiter bezüglich Transparenz von Aufsichtsräten ist, konnte in den letzten Jahren am TUM Campus Heilbronn ein wohl einmaliger Datenschatz heranwachsen. Grundlage dafür waren insbesondere Informationen, die Unternehmen gemäß dem Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) zu den Sitzungsformen ihrer Aufsichtsratssitzungen veröffentlichen. 
 

Balance zwischen Flexibilität und Effektivität
 

Die zentrale Erkenntnis: Es gibt einige empirische Indizien, die einen Zusammenhang zwischen der Form der Aufsichtsratssitzungen und dem Ausmaß von bilanzpolitischen Manipulationen nahelegen. Tendenziell scheinen virtuell tagende Aufsichtsräte diesen weniger effektiv entgegenwirken zu können als vor Ort tagende Gremien. „Zweifelsohne unterscheiden sich die Gruppendynamik und die Diskussionskultur von virtuell, hybrid und vor Ort stattfindenden Sitzungen. Wir alle kennen die Situation, dass man sich auf eine interaktive Präsentation anders vorbereitet als auf einen Monolog mit anschließender Fragerunde im Virtuellen. Auch unterscheiden sich die Herausforderungen an eine produktive Sitzungsleitung und die Bedeutung von nonverbaler Kommunikation deutlich“, erklärt Lino Ballof.

Ein interessanter Befund ist zudem, dass auch ausschließlich vor Ort tagende Aufsichtsräte nicht das „Optimum“ darstellen. Die empirischen Indizien deuten darauf hin, dass geschickte Kombinationen aus Präsenzsitzungen und virtuellen Treffen sowie die Möglichkeit, dass einzelne Aufsichtsräte in begründeten Ausnahmefällen auch virtuell teilnehmen können, Bilanzpolitik am effektivsten unterbinden. 

Lino Ballof plädiert daher für eine undogmatische Balance zwischen Flexibilität und Effektivität: „Der direkte persönliche Austausch ist für eine effektive Aufsicht unersetzbar. Da Aufsichtsratsmitglieder in der Regel vielbeschäftigte und international tätige Persönlichkeiten sind, erscheint es dennoch plausibel, dass man nur dann die besten Köpfe kriegen und motivieren kann, wenn diesen die Teilnahme nicht unnötig erschwert wird.“
 

Nur intelligente Kombinationen sind langfristig erfolgversprechend
 

„Die Ergebnisse meiner Forschungsarbeiten sollen zuvorderst eine offene Diskussion über intelligente Arbeitsformate für die Zukunft anregen“, sagt Lino Ballof. Was bedeuten seine Erkenntnisse also für die aktuelle Debatte über das „remote“ Arbeiten? Sollte das Homeoffice sofort abgeschafft werden, wie dies von nicht wenigen Unternehmenseigentümern gefordert wird? „Natürlich nicht“, sagt Lino Ballof: „Der Versuch, die Uhr zurückzudrehen, und eine „Entweder-Oder“-Haltung sind gewiss nicht zielführend. Stattdessen brauchen Unternehmen eine ehrliche und unideologische Bestandsaufnahme ihrer Prozesse. Es gilt die Stärken beider Ansätze zu erkennen und gezielt zu nutzen.“