Lässt sich das Targeting-Rad zurückdrehen?
Der Großteil aller Apps finanziert sich durch Werbung – mithilfe personenbezogener Daten. Die Implikationen für Konsumenten- und Datenschutz sind gravierend. Eine neue TUM-Studie zeigt, was eine Abkehr für den Markt bedeuten würde.
„Der Zug ist längst abgefahren.“
Wann immer wir glauben, einen Trend nicht mehr im Griff zu haben, fällt diese Metapher. Das Thema Werbung scheint sich hier perfekt einzureihen. Egal ob auf Webseiten, in den sozialen Medien oder Apps, die wir täglich nutzen: Überall kämpfen Anbieter um unsere Aufmerksamkeit. Und gekämpft wird mit harten Bandagen. Denn vorbei sind die Zeiten, als dieselbe Internetwerbung so ziemlich jede und jeden erreichte – ungeachtet der jeweiligen Vorlieben, Lebensrealitäten und des Konsumverhaltens. Heute hat so ziemlich jedes bisschen Ad-Content direkten Bezug zu dem, was uns interessiert. Dahinter stecken nicht etwa die hellseherischen Fähigkeiten gerissener Marketeers, sondern ein ziemlich cleveres Stück Technik – sogenannte Tracker.
Unbemerkt wie Wanzen oder Peilsender heften sie sich an die Browser und Apps unserer Endgeräte und lernen uns dadurch Tag für Tag besser kennen. Einer Person, die sich eben noch Rezensionen zum neuen Album der Red Hot Chili Peppers durchgelesen hat, kann die Plattenfirma Warner Brothers Records mithilfe von Trackern gezielt Werbung ausspielen. Und das ist erst der Anfang. Denn gerade App-Entwickler haben Targeting perfektioniert und treiben den Konflikt zwischen kostenlosem Konsum und Wahrung der Privatsphäre auf die Spitze.
Für Smartphone-Applikationen, die auf den ersten Blick nichts oder kaum etwas kosten, gibt es im Grunde drei Mittel, um trotzdem Geld zu verdienen: Nummer eins sind klassische Werbeanzeigen in der App selbst. Dann wären da noch In-App-Käufe, die häufig bei Spielen zum Einsatz kommen. Nutzerinnen und Nutzer lassen sich von ansprechenden Brandings, Grafiken und Gameplay-Konzepten locken, müssen in Folge aber schnell feststellen, dass das fragliche Spiel vor allem dann Spaß macht, wenn man Inhalte dazu kauft. Ganz ähnlich funktionieren übrigens auch Spielautomaten: Das Suchtpotenzial liegt maßgeblich im Glauben, dass mit dem Einsatz auch der Gewinn – und der Spielspaß – steigt.
Jens Förderer hat die Professur für Innovation und Digitalisierung am Campus Heilbronn inne.
Die dritte und inzwischen wohl beliebteste Monetarisierungsoption ist das Targeting. Auch hier bezahlen Nutzerinnen und Nutzer nicht mit Geld. Stattdessen dienen die eigenen personenbezogenen Daten als Eintrittskarte. In Schritt eins holt sich die App das Einverständnis ein, Surfverhalten, Standort, Fotos oder Nachrichten einsehen und auswerten zu dürfen. Werbetreibende Firmen und Werbenetzwerke zahlen anschließend, um die dabei entstehenden Datenpools nutzen zu dürfen. Denn damit lassen sich Rückschlüsse auf Nutzerinteressen ziehen und Werbung an Menschen ausspielen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit Interesse daran haben. Klingt erst mal nach einem fairen Deal. Oder nicht?
„Targeting ist ziemlich umstritten“, weiß Prof. Jens Förderer vom Lehrstuhl für Innovation und Digitalisierung am TUM Campus Heilbronn. „Was auf den ersten Blick wie eine Win-win-Situation aussieht, greift im Grunde tief in die Privatsphäre der Menschen ein. Denn die gesammelten Daten werden nicht selten an Werbenetzwerke verkauft, die damit personenbezogene Profile erstellen.“ Die Rede ist von virtuellen Steckbriefen, die Alter, Geschlecht, Wohnort, Interessen und vieles mehr umfassen. Viele, über die solche Informationen vorliegen, wissen nichts davon – und haben keine Kontrolle darüber, in welche Hände ihre Daten gelangen.
Verbraucherschutz-Initiativen und politische Akteure drängen darum mehr und mehr zu einem gesetzlichen Verbot von Targeting. Doch was wäre dann? Gemeinsam mit seinem Doktoranden Tobias Kircher hat sich Prof. Förderer dieser Frage angenommen und die Folgen in einer Studie beleuchtet: Welche Auswirkungen hätte ein Verbot für die App-Entwicklung?
Was auf den ersten Blick wie eine Win-win-Situation aussieht, greift im Grunde tief in die Privatsphäre der Menschen ein.
Um ein möglichst treffendes Bild zu zeichnen, entschied sich das Heilbronner Forschungsteam für eine umfangreiche quantitative Studie anhand von Daten der App-Plattform Android. 2019 hatte Google personalisierte Werbung in Kinderspielen verboten, nicht aber in anderen Apps. Um die Folgen einer Regulierung des gesamten Marktes zu prognostizieren, untersuchte das Duo die Daten von Kinderspielanbietern und verglich sie mit Apps, die nicht betroffen waren. Aufgezeichnet wurde, welche Apps eingestellt wurden, wie viele Updates ein Anbieter veröffentlichte und ob dieser Preisänderungen vornahm.
Das Ergebnis: „Nach dem Targeting-Verbot verzeichnete die Branche ein massives App-Sterben”, so TUM-Doktorand Tobias Kircher. „Wir schätzen, dass innerhalb eines Jahres mehr als 3,000 Angebote eingestellt wurden.“ Die Regulierung wirkte sich auch erheblich auf deren Weiterentwicklungen aus, mit einem Rückgang der Updates um 17 Prozent. Besonders betroffen waren junge Anbieter. Aber nicht ausschließlich. „Wir hatten mit einem Rückgang in der App-Entwicklung gerechnet“, betont Kircher. „Dass aber auch populäre Apps betroffen waren, hat uns dann doch überrascht.“
Doktorand Tobias Kircher forscht am TUM Campus Heilbronn zum Thema Ad Targeting.
Auf Basis der Studienergebnisse wird der Konflikt zwischen Datenschutz, Angebot und Nutzungsverhalten auf dem App-Markt deutlich. Einnahmen durch personalisierte Werbung sind für die Entwicklung von Smartphone-Applikationen unverzichtbar. Nutzerinnen und Nutzer müssen sich im Klaren darüber sein, dass ein Verbot von Targeting die App-Vielfalt massiv einschränkt. Gleichzeitig stehen Anbieter-Unternehmen vor der Herausforderung, ihre Geschäftsmodelle unabhängiger von Werbeeinnahmen zu machen. Kommt tatsächlich ein Verbot, dürften wir einen neuen Markt erleben. Die Anzahl und Qualität der Angebote würden sich ändern. Und möglicherweise auch, wie wir für Smartphone-Apps bezahlen. Zum Wohle unserer Privatsphäre.